Reportage zum Homeless World Cup 2003
Graz, die Europäische Kulturhauptstadt 2003, pflegt derzeit nicht nur ihr Image als Ort kreativer Kultur, sondern hat für eine Woche auch ihr Innerstes, den Hauptplatz, für Obdachlose aus 18 verschiedenen Nationen als Bühne bereit gestellt. Und damit ein kleines Fußballwunder ermöglicht.
Graz ist ein bißchen anders. Das behauptet auch Wien von sich, aber in Graz liegt die Erklärung dafür auf der Straße – oder am Klima, wie man es nimmt: Es ist wärmer und sonniger als etwa in Salzburg, die Neigung zu Straßencafés lässt sich nur mehr mit italienischen Badeorten vergleichen, und die Altstadt wird, anders als in Wien, Salzburg und sämtlichen italienischen Badeorten, immer noch mehrheitlich von Einheimischen überflutet. Und die sind ein bißchen gemütlicher als anderswo. Derzeit ist es allerdings anders, lebhafter, weil die Stadt den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trägt und einiges zu bieten hat. Dem Wahrzeichen der Stadt, dem Uhrturm, wurde ein weithin sichtbarer Schatten verpasst, der hinter ihm steht, als wollte er ihn den Berg herunterstoßen. Zur Feier des Tages sozusagen.Weil: Österreich ist Weltmeister. Nein, wir sprechen hier nicht vom Nationencup der alpinen Skifahrer: Die Disziplin, um die es geht, ist Fußball. Erobert haben den Titel acht Herren aus Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Kamerun. Sie sind Straßenzeitungsverkäufer des „Megaphon“ in Graz, Asylwerber in Österreich und begnadete Fußballer. Das von T-mobile gesponserte Team der Grazer Straßenzeitung hat sich über die österreichinterne Ausscheidung für die erstmals ausgetragene Fußballweltmeisterschaft Obdachloser qualifiziert. Und nach einigen an Spannung kaum zu überbietenden Matches den Titel für Österreich geholt. Doch zurück zum ersten Spieltag: Am Programm steht zu Beginn ein Klassiker des Fußballs, nämlich Deutschland gegen Holland. Die Deutschen sind mit einer zusammengewürfelten Mannschaft aus vier verschiedenen Städten unter der Regie der Regensburger Straßenzeitung „Donaustrudel“ angereist. Hoffnung auf den Titel hat man sich keine gemacht, aber zumindest „Weltmeister der Herzen“ wolle man werden, so Trainer Reinhard Kellner im „Greenpeace Magazin“ vor der WM. Tatsächlich setzt es im ersten Spiel ein 0:14, und den Spielern ist die Enttäuschung über die eklatant ungleiche Leistungsstärke der Mannschaften anzusehen. Kellner beruhigt danach seinen Torwart: „Das Spiel haben alle verloren, nicht einer“. Und zu den Medien meint er: „Ich bin nicht unzufrieden, alle haben gekämpft, keiner hat aufgegeben.“
Zwei Steinwürfe weiter – würde man denn Steine werfen, was in Graz, wie fast überall, verboten ist – müht sich das Schweizer Team gegen Spanien. Der Paradeishof gibt einen gemütlichen, wenn auch etwas beengten Rahmen für ein Spiel, das auch wie auf einer schiefen Ebene verläuft: Urs, Asi und Kollegen kämpfen und laufen, verlieren haushoch. Urs, den bärigen Kapitän der Schweizer, scheint das nicht sonderlich zu stören. Für die Schweiz zählt das olympische Motto: Dabeisein ist alles. Am nächsten Morgen steht Urs am Hauptplatz auf dem Spielfeld, mutterseelenallein, ganz eingehüllt in eine Schweizer Fahne und blickt verträumt in den Himmel.
Das 1984 in Stein gemeißelte Motto vor dem Grazer Hauptbahnhof lautet „Wir haben gelernt miteinander zu leben“ und erinnert an die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstandes 1934. Ein Hinweis darauf, dass es nicht immer gemütlich zugegangen ist an der Mur. „Pensionopolis“ wurde Graz noch vor dem ersten Weltkrieg genannt, weil viele k.u.k.-Offiziere hier ihren Ruhestand genossen. Hitler schließlich adelte Graz mit dem Titel „Stadt der Volkserhebung“, nach dem Krieg wurde dieser Teil der Geschichtsschreibung nur noch selten an die Oberfläche öffentlicher Aufmerksamkeit gespült. Im Bedenkjahr 1988 beispielsweise wurde die Mariensäule in der Grazer Altstadt im Rahmen des „Steirischen Herbstes“ mit einer NS-Siegessäule überbaut. „Eine gedankliche Provokation“, wie sich der ehemalige Grazer Kulturstadtrat, Helmut Strobl, erinnert. Für viele Bewohner zuviel der Provokation, für einen Bewohner Anlass genug einen Brandanschlag zu wagen. Die Marienstatue schmolz teilweise und wurde aufwändig renoviert. Neben ihr steht heute ein Lift, der Neugierigen in Augenhöhe mit der Statue den Blick über die Herrengasse eröffnet. Der Täter von damals, weiß Strobl, sei ein Sonderling gewesen, der heute in einem Obdachlosenheim lebt.
Strobl ist einer der Väter der Väter des Projektes „Graz03“. „Drei Mal haben wir es probiert, den Zuschlag für die Kulturhaupstadt zu erhalten, 1988 hat es dann geklappt“, kann er heute auf die Früchte seiner Arbeit zurückblicken. Mit der Ausrichtung der Obdachlosen-WM haben die Organisatoren von Graz03 ein weiteres Highlight in einem an Ereignissen nicht armen Jahr in der Stadt. Der „Homeless Streetsoccer Cup“, wie die WM offiziell heißt, ist ein Publikumserfolg und soll künftig jährlich in wechselnden Staaten ausgetragen werden. „Eine Kostenfrage“, meint Mel Young, Präsident des internationalen Netzwerkes von Straßenzeitungen, „mit einem großen Sponsor ist es kein Problem“. Dieser müsste 300.000 Euro bereitstellen, soviel hat die Veranstaltung in Graz gekostet und zwar „vom Auf- und Abbau der Felder über die Spielerbetreuung bis zur letzten Wurstsemmel“, wie Bernhard Wolf vom Organisationsteam des „Megaphon“ erklärt. Dabei, so wird sein Kollege Harald Schmied nicht müde zu betonen, geht es bei der Obdachlosen-WM gar nicht sosehr um Fußball: „Fußball ist unser Symbol, das jeder versteht. Gehen tut es um die Integration von obdachlosen Menschen.“
Den Spielern des österreichischen Teams geht es sehr wohl um Fußball, denen geht es auch ums Gewinnen. Beim Spielen der österreichischen Hymne stehen sie aufgereiht nebeneinander, die rechte Hand auf die Brust gepresst, dort, wo das Herz schlägt. Beinahe Herzrasen bekommen dann die etwa 1000 Fans, die nach einem 1:1 in der regulären Spielzeit noch ein Penalty-schießen serviert bekommen. Einpeitscher, Antreiber und Motivator der Österreicher auf dem Feld ist der Tormann. Das Publikum nennt ihn schon am ersten Spieltag beim Vornamen und „Ibo, Ibo“-Sprechchöre feuern ihn an und belohnen jede katzengleiche Abwehrreaktion. Als gäbe es ein Drehbuch, wird Ibo zum Held des Spiels, wehrt den entscheidenden Penalty der Brasilianer ab und lässt sich ausgiebig feiern. Bis zum Titelgewinn.
Den Status als Asylwerber kennen die österreichischen Spieler. Wer während der WM-Woche die künstliche Murinsel besuchen will, kann vielleicht ein bißchen mitfühlen. Denn die Schauspielgruppe „Theater am Bahnhof“ hat die Insel besetzt und eine eigene Republik ausgerufen: Acconci a. d. Mur. „Sicherheit steht im Mittelpunkt“, heißt es in der programmatisch-süffisanten Eigenbeschreibung der Inselrepublik. Wer sie besuchen möchte, muss sich erst um eine Aufenthaltsbewilligung bemühen. Formulare gibt es in allen Grazer Filialen einer Großbäckerei. Bewacht wird der Zutritt zur Insel von einer jungen Frau, die das Ansinnen um vorübergehenden Aufenthalt freundlich aber bestimmt zurückweist. Erst ab 14 Uhr wieder, lautet die Auskunft. Diese Republik hat Öffnungszeiten, an die sich auch Journalisten zu halten haben.
Die Obdachlosen-WM ist entschieden. Deutschland ist die Revanche gegen Holland mit einem erzielten Treffer gelungen, dem ersten, den die Niederländer bis dahin im Turnier hinnehmen mussten. Weltmeister der Herzen werden die Deutschen dagegen nicht. Diesen Titel holt sich die Schweiz, stockletzte im Turnier, aber mit einem Auftreten, das an Herzlichkeit und Natürlichkeit schlicht nicht zu überbieten ist. Die Spieler des österreichischen Teams dürfen nun zumindest ein Jahr lang den Titel eines Weltmeisters tragen. Graz wird seinen Ehrentitel als Kulturhauptstadt noch bis Ende des Jahres führen. Das neue Kunsthaus mit den einprägsamen „Düsen“ am Dach wird trotzdem erst im September fertig gestellt und im Oktober erstmals bespielt werden. Der Schatten des Uhrturms ist dagegen längst verkauft und wird ab dem kommenden Jahr ein Einkaufszentrum südlich von Graz schmücken. Jene acht Herren, die für Österreich den Titel im „Homeless Streetsoccer Cup“ errungen haben, warten indes noch ebenso wie ihre Kollegen bei der Straßenzeitung „Megaphon“ auf die positive Erledigung ihrer Asylanträge. Da ist Österreich kein bißchen anders.
Stefan Tschandl
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