Archive for the 'Uncategorized' Category

„Haben Sie schon die Neue?“

AugustinSelbstbewusst, inhaltlich bunt, sozial engagiert und doch sehr unterschiedlich: Fünf Straßenzeitungen in fünf österreichischen Städten versuchen Obdachlosen, Wohnungslosen, Süchtigen, Arbeitslosen und/oder Flüchtlingen Arbeit und Stimme zu geben. Ein Überblick.

Augustin: Zwei Mal im Monat mit jeweils einer Auflage von 30.000 Stück erscheint der „Augustin“ in Wien. Die mit Abstand größte Straßenzeitung Österreichs wird von rund 300 Verkäuferinnen und Verkäufern seit über zehn Jahren unter die Leute gebracht. Jede Woche werden zehn bis 15 „Neue“ auf den Verkauf eingeschult. „Die Fluktuation ist sehr groß“, beschreibt Robert Sommer das Kommen und Gehen beim „Augustin“, „aber die wenigsten bleiben länger“. Die Auflagenstärke der Zeitung garantiert auch deren Unabhängigkeit: „Wir nehmen keine Subventionen. Wir brauchen sie nicht und wollen sie nicht“, so Sommer. Zu 90 Prozent finanziert sich der „Augustin“ über den Verkauf der Zeitung, der Rest wird über private Spenden und Inserate hereingebracht. Neben der Straßenzeitung sind auch zahlreiche andere Initiativen entstanden. Zuletzt wurde eine Theatergruppe ins Leben gerufen und jeden 13. eines Monats wird auf Initiative des „Augustin“ an verschiedenen Orten quasi gegen das sprichwörtliche Unglück gefeiert. Ein alternativer Fasching sozusagen „für Leute, die sonst nichts zu feiern haben“, wie Robert Sommer es nennt.

Megaphon: Die Grazer Straßenzeitung wird zu zehn Prozent von der Caritas gesponsert, 90 Prozent kommen aus Verkauf und Inseraten. Der größte Unterschied zu den anderen Straßenzeitungen in Österreich ist wohl die Herkunft der Verkäuferinnen und Verkäufer. Sie kommen fast ausschließlich aus Schwarzafrika und sind nach Österreich geflüchtet. 45 an der Zahl sind es derzeit, welche die ganzfärbig gestaltete Zeitung verkaufen. Worum es bei diesem Projekt geht, erklärt Harald Schmied ganz einfach: „Wir wollen etwas Gutes tun, wovon andere profitieren können“.

20er: Die Tiroler Straßenzeitung, die auch nach der Euroumstellung ihrem Namen – gleichlautend der Höhe des Verkaufspreises in Schilling – treu geblieben ist, kann zu ihrer Unterstützung auf ein Beschäftigungsprojekt mit sechs Transitarbeitsplätzen zählen, das vom AMS und dem Land Tirol finanziert wird. Etwa 30 Menschen verbreiten den „20er“ (Zwanzger) in Innsbruck und den angrenzenden Bezirken. Und das mit beeindruckendem Erfolg. Alle 11.000 im November produzierten Exemplare waren nach weniger als drei Wochen verkauft. Neben drei angestellten Redakteuren kümmert sich ein wechselndes Autorenkollektiv, also „Leute, die uns von außen zuarbeiten“ (Christoph Peter), um die Erstellung von Beiträgen.

Kupfermuckn: Die Linzer Kupfermuckn wird von der ARGE für Obdachlose herausgegeben und wird monatlich in einer Auflagenhöhe von 14.000 – 20.000 Stück in Linz, Wels, Steyr und (unregelmäßig) in Städten und Gemeinden rund um Linz im Straßenverkauf vertrieben. Pro Monat kommen zirka 70 VerkäuferInnen in der Marienstraße 11 vorbei und bringen die Zeitung unters Volk.

Apropos: Seit Dezember 1997 versucht Apropos aufzuzeigen, was sich in Salzburg abseits der bekannten Klischees in Bezug auf die Mozart-, Tourismus- und Festspielstadt tut. Monatlich werden zumeist 10.000 Exemplare gedruckt und von etwa 35 Menschen verkauft. Texte aus der sogenannten Schreibwerkstatt, Gastbeiträge und redaktionelle Beiträge werden in der Zeitung nicht gesondert ausgewiesen, sondern ganz im Gegenteil bunt gemischt. Vertrieben wird Apropos im Büro in der Glockengasse 10 und im Saftladen (Verein Neustart). Das Büro beherbergt auch eine Bibliothek und einen kleinen Vorrat an Second-Hand-Bekleidung, der je nach Bedarf an die Verkäuferinnen und Verkäufer weitergeben wird. Finanziell gefördert wird das Projekt vom Land Salzburg.

Apropos – Die Salzburger Straßenzeitung

Luise

Mehr als neun Jahre Salzburger StraßenzeitungAm 1. Dezember 1997 war es soweit. Nach Wien, Graz und Linz kam auch in Salzburg eine Straßenzeitung auf den Markt. Die damals noch als Asfalter benannte Straßenzeitung war ein Pilotprojekt der Sozialen Arbeit Gmbh in Zusammenarbeit mit dem Saftladen (einer Einrichtung des Vereins Neustart). Bereits nach drei erfolgreichen Ausgaben stand fest, dass der Asfalter eine dauerhafte Einrichtung im Salzburger Straßen- und Stadtbild werden sollte. Seit Mai 1998 erscheint die Salzburger Straßenzeitung monatlich in einer durchschnittlichen Auflage von 10.000 Stück.

Apropos FinanzierungDie Salzburger Straßenzeitung erhält eine Landessubvention in Höhe von rund 60.000 Euro. Die Eigenerwirtschaftung (Verkaufserlöse und Inserate) liegt bei 63 Prozent.

Apropos: News von der StraßeDie Salzburger Straßenzeitung versucht Menschen, die in Not geraten sind, schnell und unbürokratisch zu helfen. Die ersten zwanzig Exemplare gibt es für die Verkäuferinnen und Verkäufer gratis, für die weiteren verkauften Exemplare erhalten sie die Hälfte des Verkaufspreises von zwei Euro. Für einige ist der Verkauf der Straßenzeitung ein Zubrot zur Sozialhilfe, Frühpension oder Notstandshilfe, für viele hingegen die einzige Einnahmenquelle. Von Beginn an war es Teil des Konzeptes, dass von Armut, Sucht oder Wohnungslosigkeit betroffene Menschen in der Zeitung zu Wort kommen. Etwa ein Drittel der Berichte stammt aus ihrer Feder. In den vergangenen Monaten setzte sich die monatlich erscheinende Straßenzeitung mit den Themen „Was bleibt?“, „Im Unruhestand“ oder „Was ist schon normal?“ auseinander.

Apropos: Die Verkäuferinnen und VerkäuferBislang haben mehr als 350 Frauen und Männer die Straßenzeitung verkauft und etwa 420 haben redaktionelle Beiträge erarbeitet. Derzeit zählen 50 Personen zum Verkaufsteam. Ein Großteil davon sind Männer. Offiziell gelten 500 Menschen in der Stadt Salzburg als wohnungslos, knapp ein Viertel davon sind Frauen. Die Dunkelziffer wird jedoch doppelt so hoch geschätzt.

Die Verkäuferinnen und Verkäufer haben die Möglichkeit, an zwei Vertriebsstellen die Zeitung um einen Euro einzukaufen: im Saftladen in der Schallmooser Hauptstraße 38 und im Vertriebsbüro in der Glockengasse 10. Dort bekommen sie auch Kleidung, Haushaltsgeräte, Fahrräder und andere Dinge des täglichen Lebens, die von der Salzburger Bevölkerung abgegeben werden. Außerdem können im Vertriebsbüro auch erste Schreibversuche am Computer unternommen oder Bücher aus der mittlerweile sehr gut ausgestatteten Bibliothek entliehen werden.

INSP: Ein Netzwerk spannt sich um die Welt

Obdachloser in SpanienStraßenzeitungen sind längst nicht mehr ein rein europäisches Phänomen. Gegründet 1994 in London durch die „Mutter aller Straßenzeitungen“, The Big Issue London, ist die Vernetzung des International Network of Street Papers (INSP) weltweit immer weiter fort geschritten. Nach dem Zusammenschluss des INSP mit dem nordamerikanischen Straßenzeitungsverband NASNA im vergangenen Jahr (2006) ist die Zahl der Mitglieder auf 80 angewachsen. Verstreut sind sie über alle fünf Kontinente und 27 verschiedene Staaten. Sitz der Zentrale ist Glasgow, Schottland.

Neben der Vertretung aller Straßenzeitungen weltweit und dem regen Gedankenaustausch zwischen diesen Projekten wurde das INSP vor allem aus einem Grund ins Leben gerufen: Um Straßenzeitungen dabei zu ermutigen und zu unterstützen innovative und nachhaltig soziale Firmen zu gründen, die Menschen in Not die Chance auf eine Arbeit und ein Einkommen bieten.

Homeless World Cup: Warum Fußball reich macht

Team Schottland2003 in Graz ins Leben gerufen, zwei Jahre später als bestes europäisches Sport-Sozialprojekt ausgezeichnet: Der Homeless World Cup – so sehen Sieger aus.640.000 Euro war der Vereinigung Europäischer Fußballverbände (UEFA) die Idee wert, jährlich eine Fußballweltmeisterschaft für Obdachlose zu veranstalten. Sie zeichnete das Projekt mit dem UEFA Charity Award 2005 aus. Der erste Anpfiff auf den Straßen in der Grazer Altstadt war gleichzeitig ein Startschuß, Fußball bewusst als lebensveränderndes Element in der Obdachlosenarbeit einzusetzen. Die Wirkung war verblüffend. Fast Zweidrittel der Spieler sind wieder sesshaft geworden, etwa ein Drittel nahmen an Drogen-Entzugsprogrammen teil, haben eine Ausbildung (wieder) aufgenommen oder einen Job gefunden. Einige der Teilnehmer erhielten sogar Anstellungen bei namhaften Fußballvereinen und arbeiten inzwischen dort als Spieler oder Trainer – und praktisch alle gaben an, dass ihnen das Fußball spielen neuen Lebenswillen gegeben und sich ihre Situation signifikant verbessert habe. Wie schnell es sich herumgesprochen hat, dass die Veranstaltung mehr ist als bloß ein Sportevent beweist auch die stetig wachsende Zahl der angemeldeten Teams: Waren es im Gründungsjahr 18 Fußballnationen, die in Österreich um den Siegerpokal spielten (Siegerteam: Österreich, das komplett aus afrikanischen Flüchtligen bestand), nahmen im Folgejahr auf schwedischem Asphalt in Göteburg bereits 26 Nationen (Siegerteam: Italien) und 2005 im schottischen Edinburgh 32 internationale Mannschaften (Siegerteam: Italien) an dem Bewerb teil. Während 2006 die „richtige“ Fußball-WM in Deutschland stattfand, wurde parallel dazu beim Homeless World Cup in Cape Town/Südafrika um den Weltmeistertitel gekämpft. Das Siegerteam kam aus Rußland. Heuer findet das Turnier von 29. Juli bis 4. August in Kopenhagen, Dänemark, statt.

Der lange Schatten des Fußball

Homeless World CupReportage zum Homeless World Cup 2003

Graz, die Europäische Kulturhauptstadt 2003, pflegt derzeit nicht nur ihr Image als Ort kreativer Kultur, sondern hat für eine Woche auch ihr Innerstes, den Hauptplatz, für Obdachlose aus 18 verschiedenen Nationen als Bühne bereit gestellt. Und damit ein kleines Fußballwunder ermöglicht.

Graz ist ein bißchen anders. Das behauptet auch Wien von sich, aber in Graz liegt die Erklärung dafür auf der Straße – oder am Klima, wie man es nimmt: Es ist wärmer und sonniger als etwa in Salzburg, die Neigung zu Straßencafés lässt sich nur mehr mit italienischen Badeorten vergleichen, und die Altstadt wird, anders als in Wien, Salzburg und sämtlichen italienischen Badeorten, immer noch mehrheitlich von Einheimischen überflutet. Und die sind ein bißchen gemütlicher als anderswo. Derzeit ist es allerdings anders, lebhafter, weil die Stadt den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trägt und einiges zu bieten hat. Dem Wahrzeichen der Stadt, dem Uhrturm, wurde ein weithin sichtbarer Schatten verpasst, der hinter ihm steht, als wollte er ihn den Berg herunterstoßen. Zur Feier des Tages sozusagen.Weil: Österreich ist Weltmeister. Nein, wir sprechen hier nicht vom Nationencup der alpinen Skifahrer: Die Disziplin, um die es geht, ist Fußball. Erobert haben den Titel acht Herren aus Nigeria, Senegal, Sierra Leone und Kamerun. Sie sind Straßenzeitungsverkäufer des „Megaphon“ in Graz, Asylwerber in Österreich und begnadete Fußballer. Das von T-mobile gesponserte Team der Grazer Straßenzeitung hat sich über die österreichinterne Ausscheidung für die erstmals ausgetragene Fußballweltmeisterschaft Obdachloser qualifiziert. Und nach einigen an Spannung kaum zu überbietenden Matches den Titel für Österreich geholt. Doch zurück zum ersten Spieltag: Am Programm steht zu Beginn ein Klassiker des Fußballs, nämlich Deutschland gegen Holland. Die Deutschen sind mit einer zusammengewürfelten Mannschaft aus vier verschiedenen Städten unter der Regie der Regensburger Straßenzeitung „Donaustrudel“ angereist. Hoffnung auf den Titel hat man sich keine gemacht, aber zumindest „Weltmeister der Herzen“ wolle man werden, so Trainer Reinhard Kellner im „Greenpeace Magazin“ vor der WM. Tatsächlich setzt es im ersten Spiel ein 0:14, und den Spielern ist die Enttäuschung über die eklatant ungleiche Leistungsstärke der Mannschaften anzusehen. Kellner beruhigt danach seinen Torwart: „Das Spiel haben alle verloren, nicht einer“. Und zu den Medien meint er: „Ich bin nicht unzufrieden, alle haben gekämpft, keiner hat aufgegeben.“

Zwei Steinwürfe weiter – würde man denn Steine werfen, was in Graz, wie fast überall, verboten ist – müht sich das Schweizer Team gegen Spanien. Der Paradeishof gibt einen gemütlichen, wenn auch etwas beengten Rahmen für ein Spiel, das auch wie auf einer schiefen Ebene verläuft: Urs, Asi und Kollegen kämpfen und laufen, verlieren haushoch. Urs, den bärigen Kapitän der Schweizer, scheint das nicht sonderlich zu stören. Für die Schweiz zählt das olympische Motto: Dabeisein ist alles. Am nächsten Morgen steht Urs am Hauptplatz auf dem Spielfeld, mutterseelenallein, ganz eingehüllt in eine Schweizer Fahne und blickt verträumt in den Himmel.

Das 1984 in Stein gemeißelte Motto vor dem Grazer Hauptbahnhof lautet „Wir haben gelernt miteinander zu leben“ und erinnert an die blutige Niederschlagung des Arbeiteraufstandes 1934. Ein Hinweis darauf, dass es nicht immer gemütlich zugegangen ist an der Mur. „Pensionopolis“ wurde Graz noch vor dem ersten Weltkrieg genannt, weil viele k.u.k.-Offiziere hier ihren Ruhestand genossen. Hitler schließlich adelte Graz mit dem Titel „Stadt der Volkserhebung“, nach dem Krieg wurde dieser Teil der Geschichtsschreibung nur noch selten an die Oberfläche öffentlicher Aufmerksamkeit gespült. Im Bedenkjahr 1988 beispielsweise wurde die Mariensäule in der Grazer Altstadt im Rahmen des „Steirischen Herbstes“ mit einer NS-Siegessäule überbaut. „Eine gedankliche Provokation“, wie sich der ehemalige Grazer Kulturstadtrat, Helmut Strobl, erinnert. Für viele Bewohner zuviel der Provokation, für einen Bewohner Anlass genug einen Brandanschlag zu wagen. Die Marienstatue schmolz teilweise und wurde aufwändig renoviert. Neben ihr steht heute ein Lift, der Neugierigen in Augenhöhe mit der Statue den Blick über die Herrengasse eröffnet. Der Täter von damals, weiß Strobl, sei ein Sonderling gewesen, der heute in einem Obdachlosenheim lebt.

Strobl ist einer der Väter der Väter des Projektes „Graz03“. „Drei Mal haben wir es probiert, den Zuschlag für die Kulturhaupstadt zu erhalten, 1988 hat es dann geklappt“, kann er heute auf die Früchte seiner Arbeit zurückblicken. Mit der Ausrichtung der Obdachlosen-WM haben die Organisatoren von Graz03 ein weiteres Highlight in einem an Ereignissen nicht armen Jahr in der Stadt. Der „Homeless Streetsoccer Cup“, wie die WM offiziell heißt, ist ein Publikumserfolg und soll künftig jährlich in wechselnden Staaten ausgetragen werden. „Eine Kostenfrage“, meint Mel Young, Präsident des internationalen Netzwerkes von Straßenzeitungen, „mit einem großen Sponsor ist es kein Problem“. Dieser müsste 300.000 Euro bereitstellen, soviel hat die Veranstaltung in Graz gekostet und zwar „vom Auf- und Abbau der Felder über die Spielerbetreuung bis zur letzten Wurstsemmel“, wie Bernhard Wolf vom Organisationsteam des „Megaphon“ erklärt. Dabei, so wird sein Kollege Harald Schmied nicht müde zu betonen, geht es bei der Obdachlosen-WM gar nicht sosehr um Fußball: „Fußball ist unser Symbol, das jeder versteht. Gehen tut es um die Integration von obdachlosen Menschen.“

Den Spielern des österreichischen Teams geht es sehr wohl um Fußball, denen geht es auch ums Gewinnen. Beim Spielen der österreichischen Hymne stehen sie aufgereiht nebeneinander, die rechte Hand auf die Brust gepresst, dort, wo das Herz schlägt. Beinahe Herzrasen bekommen dann die etwa 1000 Fans, die nach einem 1:1 in der regulären Spielzeit noch ein Penalty-schießen serviert bekommen. Einpeitscher, Antreiber und Motivator der Österreicher auf dem Feld ist der Tormann. Das Publikum nennt ihn schon am ersten Spieltag beim Vornamen und „Ibo, Ibo“-Sprechchöre feuern ihn an und belohnen jede katzengleiche Abwehrreaktion. Als gäbe es ein Drehbuch, wird Ibo zum Held des Spiels, wehrt den entscheidenden Penalty der Brasilianer ab und lässt sich ausgiebig feiern. Bis zum Titelgewinn.

Den Status als Asylwerber kennen die österreichischen Spieler. Wer während der WM-Woche die künstliche Murinsel besuchen will, kann vielleicht ein bißchen mitfühlen. Denn die Schauspielgruppe „Theater am Bahnhof“ hat die Insel besetzt und eine eigene Republik ausgerufen: Acconci a. d. Mur. „Sicherheit steht im Mittelpunkt“, heißt es in der programmatisch-süffisanten Eigenbeschreibung der Inselrepublik. Wer sie besuchen möchte, muss sich erst um eine Aufenthaltsbewilligung bemühen. Formulare gibt es in allen Grazer Filialen einer Großbäckerei. Bewacht wird der Zutritt zur Insel von einer jungen Frau, die das Ansinnen um vorübergehenden Aufenthalt freundlich aber bestimmt zurückweist. Erst ab 14 Uhr wieder, lautet die Auskunft. Diese Republik hat Öffnungszeiten, an die sich auch Journalisten zu halten haben.

Die Obdachlosen-WM ist entschieden. Deutschland ist die Revanche gegen Holland mit einem erzielten Treffer gelungen, dem ersten, den die Niederländer bis dahin im Turnier hinnehmen mussten. Weltmeister der Herzen werden die Deutschen dagegen nicht. Diesen Titel holt sich die Schweiz, stockletzte im Turnier, aber mit einem Auftreten, das an Herzlichkeit und Natürlichkeit schlicht nicht zu überbieten ist. Die Spieler des österreichischen Teams dürfen nun zumindest ein Jahr lang den Titel eines Weltmeisters tragen. Graz wird seinen Ehrentitel als Kulturhauptstadt noch bis Ende des Jahres führen. Das neue Kunsthaus mit den einprägsamen „Düsen“ am Dach wird trotzdem erst im September fertig gestellt und im Oktober erstmals bespielt werden. Der Schatten des Uhrturms ist dagegen längst verkauft und wird ab dem kommenden Jahr ein Einkaufszentrum südlich von Graz schmücken. Jene acht Herren, die für Österreich den Titel im „Homeless Streetsoccer Cup“ errungen haben, warten indes noch ebenso wie ihre Kollegen bei der Straßenzeitung „Megaphon“ auf die positive Erledigung ihrer Asylanträge. Da ist Österreich kein bißchen anders.

Stefan Tschandl

Die Rumänische Straßenzeitung „Spune“

„Wir müssen uns für die Tausenden von Obdachlosen etwas einfallen lassen“

Knapp eine halbe Million Menschen lebt in der rumänischen Stadt Iasi. Eine Umfrage der Straßenzeitung „Spune“ brachte ein erschreckendes Ergebnis. Nahezu fünf Prozent der Bevölkerung hat kein Dach über dem Kopf.

Maricel liebt seine Eltern. Deshalb heuerte er vor drei Jahren bei der rumänischen Straßenzeitung Spune als Verkäufer an. Der damals 19jährige brauchte dringend Geld, um seine Eltern finanziell zu unterstützen. Nachdem er genügend Zeitungen verkauft und sich die familiäre Notlage gebessert hatte, zog er von Iasi nach Bukarest zurück, wo er mit seiner Frau lebte. Nun, drei Jahre, diverse Jobs, eine Ausbildung zum Laienpriester und einen Unfall später, ist er wieder bei Spune gelandet. Die Situation in Iasi, der „kulturellen Hauptstadt“ Rumäniens, hat sich seit seinem Weggang stark verändert.

Von den 400.000 Einwohnern gelten heute 20.000 Menschen als obdachlos. Diese Zahl wurde der Straßenzeitung „Spune“ im Rahmen einer Umfrage zum Weltarmutstag von mehreren Seiten kolportiert. Eine Höhe, die Projektleiter Roger Livesey erstaunt: „Selbst wenn diese Ziffer fünf Mal zu hoch angesetzt sein sollte, bliebe immer noch eine hohe Anzahl an Menschen, die auf der Straße lebt.“ Ursprünglich war der Verkauf von „Spune“ für jene gedacht, die von Wohnungslosigkeit bedroht, aber noch nicht ohne Dach über dem Kopf waren. „Als wir im November 1999 starteten, hieß es, in Iasi gebe es nur eine geringe Obdachlosigkeit. Nun müssen wir unser Konzept überdenken und versuchen, die vielen Betroffenen in unser Projekt einzubinden“, so Livesey. Die steigende Zahl erklärt der Projektleiter mit der zunehmenden Arbeitslosigkeit, dem Mangel an geförderten Wohnungen und mit dem Zuzug von Menschen aus anderen Teilen Rumäniens.

Maricel verkauft gut. Sehr gut sogar. Sobald eine neue Ausgabe erscheint, liest er sie aufmerksam durch und weist seine Käufer auf besondere – oft christliche – Inhalte hin. „Die Leute in Iasi sind sehr gläubig und viele meiner Kunden kaufen die Zeitung wegen eines Artikel über eine Kirche oder einen Heiligen.“ An guten Tagen schafft er hundert Zeitungen. Maricel ist ein junger, höflicher Mann. Ärgerlich wird er nur, wenn ihm jemand Geld zustecken will. „Ich bin kein Bettler. Ich verkaufe. Ich arbeite. Ich akzeptiere Geld nur als Bezahlung für das Magazin. Gegen Trinkgeld habe ich nichts einzuwenden, das bekommt man auch in anderen Jobs.“ Er hofft, bald eine fixe Arbeit zu haben. Die Chancen stehen nicht schlecht. Seit kurzem ist Maricel Mitglied im „Job Club“, einem Beschäftigungsprogramm von Spune. Hier lernt er unter anderem, wie man sich um eine Stelle bewirbt. Der Verkauf der Straßenzeitung ist ebenfalls Teil des Trainings. „Es ist ein erster Schritt für unsere Verkäuferinnen und Verkäufer, wieder Halt zu fassen. Wir wollen den Menschen die Möglichkeit geben, wieder Chance auf einen Vollzeitjob zu haben,“ sagt Projektleiter Livesey. „Spune war ja zu Beginn als Beschäftigungsprojekt für Leute mit geringem Einkommen gedacht. Nun müssen wir uns für die Tausenden von Obdachlosen noch etwas einfallen lassen.“

Michaela Gründler

Neue Straßenzeitungen in Namibia und Brasilien

Bis vor kurzem lebte Fritz noch auf der Straße. Als er im Juni diesen Jahres in der Armenküche von Windhoek, der Hauptstadt Namibias, Sarah Taylor kennenlernt, ändert sich sein Leben. Denn die Journalistin ermutigt ihn, die Straßenzeitung „Big Issue Namibia“ zu verkaufen. „Ich berichtete meiner Mutter davon. Sie sagte, dies sei eine große Chance für mich, aus meinem Leben endlich etwas zu machen und dass ich sie ergreifen muss,“ erzählt der 27jährige. Seit Ende Juni verkauft er mit 28 weiteren Verkäufern die einzige Straßenzeitung Namibias.Die Armut ist groß in der ehemaligen Kolonie Südwestafrika. Rund 60 Prozent der 1,8 Millionen Einwohner leben unter der Armutsgrenze, von den 250.000 Menschen, die in der Hauptstadt Windhoek wohnen, sind 30 Prozent arbeitslos. „Unsere Verkäufer durchlaufen ein Trainingsprogramm, wo sie lernen, wie man auf Menschen zugeht und wie man verkauft. Außerdem können sie an der wöchentlich stattfindenden Schreibwerkstatt teilnehmen“, erklärt Chefredakteurin Sarah Taylor. Den Verkäufern stehen zwei Seiten zur Verfügung, die sie mit Texten und Bildern gestalten können. „Ich hoffe, dass sich in Zukunft mehr Verkäufer einbringen werden,“ so Taylor. Mit einer Mischung aus sozialkritischen Themen – wie Aids, Alkohol oder Wohnungslosigkeit – und Unterhaltungselementen – CD- und Buchkritiken oder Popkultur – wollen die Big Issue-Macher die Auflage kontinuierlich steigern. Derzeit erscheint „Big Issue Namibia“ ein Mal im Monat in einer Auflage von 3.000 Stück. „Starverkäufer“ wird Fritz mittlerweile genannt, hat er doch bislang von allen Verkäufern die meisten Zeitungen verkauft. „Ich habe schon viele Stammkunden. Wenn ich gut aufgelegt bin, dann singe und tanze ich. Das kommt gut an. Die Straßenzeitung hilft mir, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Einen Kontakt, den ich lange Zeit vermißt habe.“

Auch Brasiliens Straßen sind ein hartes Pflaster. In der 17 Millionen-Metropole Sao Paolo und in Rio de Janeiro mit 8 Millionen Einwohnern gelten nach offiziellen Angaben 11.500 Menschen als obdachlos. Seit Anfang Juli gibt es in beiden Städten die erste Ausgabe der Straßenzeitung „Ocas“, in einer Auflage von 15.000 Stück. Chefredakteurin Bruna Gagliardi sieht in der Straßenzeitung ein wichtiges Mittel, die Öffentlichkeit für Armut zu sensibilisieren: „Damit wird die Straße ein Umschlagplatz für soziale Debatten, Fragestellungen und Reflexionen.“ Die monatlich erscheinende Zeitung will kulturelle, nationale und internationale Themen bringen, die eng mit Armut und sozialer Ausgrenzung verbunden sind sowie unterhaltsame Artikel. „Außerdem möchten wir den Lesern Inhalte anbieten, die sie in anderen Medien so nicht finden,“ meint die Journalistin. Ein Zugang, den sie mit den meisten Straßenzeitungen weltweit teilt. Auch bei „Ocas“ gibt es eine eigene Rubrik mit Texten, Cartoons und Bildern, die von Verkäufern stammen. „Einer unserer Verkäufer, José, hat sich einen Fotoapparat ausgeborgt,“ erzählt Bruna Gagliardi. „Als er dabei war Fotos zu schießen, wurde er überfallen: Die Diebe entrissen ihm die Kamera, seine Jacke und seinen Ausweis. Und was tat José? Er kaufte einen neuen Fotoapparat und brachte ihn der Redaktion,“ schüttelt sie noch immer erstaunt den Kopf. Und fügt an: „Die Möglichkeit zu arbeiten gibt den Leuten Hoffnung – weil sie deren Leben ändert.“

Michaela Gründler


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